Bisheriges Leben | Sie rasteten kurz vor dem Orkenpass. Gerade als sie begannen sich nach einem geeigneten Lager für die Nacht umzusehen, trafen sie auf eine kleinere Gruppe Galedonier. In diesem unwirtlichen Land war ein guter Platz für die Nachtruhe schwer zu finden. Aus diesem Grund begab es sich, dass die Gruppe Nortraven trotz allen Misstrauens die Galedonier darum bat, sich zu ihnen gesellen zu dürfen. Einerseits waren die letzten Überfälle schon einige Jahre her und andererseits waren die Nordmannen den Menschen schlicht und ergreifend zahlenmäßig überlegen.
Gemeinsam scharten sie sich um das Lagerfeuer. Die allgemeine Stimmung war dabei sehr vom Misstrauen geprägt. Das änderte sich erst als die Galedonier den Nortraven einige Schlucke von ihrem Met anboten. Dazu sagten die Nordmänner nicht nein. Obwohl sie doch lieber ein köstliches Bier getrunken hätten, ist Met immer noch besser als gar kein Alkohol. Gleichzeitig lockerte der Trunk die Stimmung und sie begannen sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Eine davon war der Grund dieser Reise …
Hervid, Sohn des Einar, wuchs in einem kleinen Weiler nahe der Ortschaft Drakensvid im Nord-Westen des Norlandes auf. Seine Familie lebte seit jeher vom Ackerbau. Die Ernten fielen zwar wie so oft im Norden Falandriers eher karg aus, jedoch reichte es immer, um unbeschwert durch den Winter zu kommen. Dafür dankte Hervids Familie der Göttin Eydis mit reichhaltigen Opfergaben alljährlich zum Julfest.
Doch während Hervid seinen sechszehnten Winter erlebte, sollte alles anders kommen. Während seine gesamte Familie beisammen saß und die Wintersonnenwende feierte, begannen plötzlich von draußen her Lichter zu flackern. Da Hervid der jüngste seiner Familie war, fiel ihm das undankbare Los zu, sich danach umzusehen. Mit Schrecken erkannte er, dass das eines der umstehenden Häuser brannte. Aufgeregt rannte er zu seiner Familie und berichtete ihnen davon, woraufhin sich die Männer auf den Weg machten, um sich nach der Ursache umzusehen. Ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich: Piraten. Sie hatten eine Scheune und zwei Wohnhäuser in Brandgesteckt und waren gerade dabei ihre Plünderungen fortzusetzen. Als Hervid das alles erst richtig wahrnahm, traf ihn etwas Hartes am Kopf und es wurde schwarz um ihn …
Es war schon hell als er wieder erwachte. Ein dröhnender Kopfschmerz verstärke sich, als er sich aufsetzte und die Augen öffnete. Der gesamte Weiler war in Schutt und Asche gelegt worden. Als er sich in den Ruinen umsah, die einmal seine Heimat gewesen waren, fand er einige Überlebende, aber auch viele Leichen. Unter den Opfern waren auch Familienangehörige: der Bruder seines Vaters, zwei Vettern und seine Schwester Helga. Nichts von dem was er kannte war geblieben. Gar nichts.
So berieten sich die Überlebenden seiner Familie. Natürlich wollte keiner die alte Heimat verlassen, doch es war ihnen kaum noch Nahrung geblieben und alle fürchteten sich vor weiteren Piratenangriffen. Nach einigem Zaudern entschieden sie sich, dann doch dazu die Heimat zu verlassen. Dieses Unglück musste einfach ein Zeichen Eydis‘ gewesen sein. In der langen Geschichte des nortravischen Volkes gab es des Öfteren Anzeichen, dass die Götter bestimmte Menschen prüfen wollen, um diese dann auf ihren vorbestimmten Weg zu leiten. Auch wenn das Geschehene Hervid schmerzte, so betrachtete er doch als Zeichen der Götter und das machte ihm Mut.
Das neue Ziel war das südliche Norland. Zwar widerstrebte es ihnen den Norden mit seinen schroffen Felsen und dem weiten, kalten Meer zu verlassen, doch als Bauern verhieß ihnen das etwas wäre Klima und die fruchtbareren Böden eine bessere Zukunft. Zudem galt der Süden als friedlicher, seitdem die ständigen Kriege mit den Galedonieren beendet wurden und die Orken und die khalandrischen Barbaren niedergeschlagen waren. So entschlossen sie sich einen neuen Weiler in der Nähe der Ortschaft Mittenwald zu errichten.
Dies war nur eine der vielen Geschichten, die sich mit den Galedoniern in dieser milden Nacht am Orkpass erzählten.
Unbestimmte Zeit später wurde Hervid durch ein beständiges Rattern geweckt. Wie lange hatte er wohl geschlafen? Gemütlich wollte er sich, wie jeden Morgen, zunächst strecken, doch dann bemerkte er die Fesseln an seinen Handgelenken. Panisch riss er die Augen auf und sah sich um. Er erkannte, dass er zusammen mit seinem Bruder Andrì auf dem Boden eines großen Pferdekarrens lag. Um ihn herum sah er einige Männer, die sich miteinander unterhielten. Einige erkannte er. Es waren zwei der Galedonier mit denen sich seine Familie das Nachtlager geteilt hatte. Sie waren bewaffnet. Er schaute wieder zu einem Bruder, doch dieser war nicht bei Bewusstsein. Panisch zog Hervid an seinen Fesseln. Das bemerkten seine Begleiter und begannen zu lauthals zu Lachen. Als Hervid jedoch nicht mit seinen Befreiungsversuchen aufhörte, schlug einer der Männer ihm so hart ins Gesicht, dass es schwarz um ihn herum wurde.
Als Hervid das nächste Mal erwachte, fand er sich in einer viel zu kleinen Blockhütte mit viel zu vielen Menschen wieder. Diese Männer waren alle in Lumpen gekleidet. Sie schienen zwar kräftig zu sein, doch bei genauerem Hinsehen waren sie sichtlich abgemagert. Nachdem er sie gemustert hatte, bemerkte Hervid, dass er nicht mehr gefesselt war. Er setzte sich auf und blickte die Männer fragend an. Sie berichteten ihm, dass er sich irgendwo im nordwestlichen Teil Galadons befinden müsste. Wie sie alle, wurden sie von Fremden durch vergifteten Met in einen koma-ähnlichen Schlaf versetzt und an diesen Ort gebracht. Er müsse nun arbeiten, erzählten sie ihm. Arbeiten und schlafen. Wer sich dagegen sträubt, werde mit Peitschenhieben bis zur Bewusstlosigkeit bestraft. Tatsächlich wachten nicht alle nach dieser Bestrafung wieder auf. Als er sie nach seiner Familie fragte und einen nach dem anderen beschrieb, erkannten sie nur seinen Bruder mit dem er auf dem Pferdekarren lag. Dieser war in einer anderen Hütte untergebracht. Dort „lebten“ die Sklaven für die Feldarbeit. Hervid selbst wurde für alles andere eingesetzt. Dazu gehörte unteranderem das Ausnehmen von Wildkadavern, das Gerben von Leder und der Herstellung von anderer Bekleidung.
Natürlich versuchte Hervid anfangs mehrmals von diesem unglückseeligen Ort zu fliehen, doch er wurde jedes Mal wieder geschnappt. Davon zeugen noch viele Narben durch eine Vielzahl an Peitschenhieben auf seinem Rücken. Er fragte sich noch öfter ob denn Eydis‘ Prüfung nie ein Ende nehmen würde. Ihm musste wahrlich ein wichtiger Weg vorbestimmt sein, sodass Götter ihn derart prüfen mussten, ob er diesen auch beschreiten könne. Außerdem wusste er, dass seine Peiniger ihre gerechte Strafe erhalten würden, wenn sie sich vor den Göttern für ihre Taten verantworten müssen, da sie der göttlichen Schöpfung großen Schaden zugefügt hatten. Mit diesem Wissen begann er sich irgendwann mehr und mehr in seine Rolle zu fügen. Dennoch erstarb seine Hoffnung auf ein freies Leben nie in ihm, denn die Götter schienen über ihn zu wachen.
Eines Tages war gerade auf dem Rückweg vom Gerben. Er sollte das so gewonnene Rohleder in eines der vielen Lager bringen. Dieser Weg machte ihm jedoch nicht viel aus, da er so an den Feldern vorbei kam, auf denen sein Bruder für gewöhnlich arbeitete. Sahen sie sich, nickten sie sich jedes Mal grüßend zu. Doch an diesem Tag war es anders. Anstatt seinem Bruder grüßen zu können, sah er wie dieser von einer Vielzahl von Peitschenhieben traktiert wurde. Als der Wächter von ihm abzulassen schien, trat dieser jedoch stattdessen immer wieder auf ihn ein. Hervid ließ daraufhin seine Ladung fallen und wollte zu seinem Bruder laufen. Doch bei dem Versuch wurde er niedergeschlagen. Dieser Schlag traf ihn so heftig, dass er die darauf folgenden Peitschenhiebe nicht mehr bemerkte.
Als er wieder erwachte, war es bereits dunkel. Er lag immer noch auf dem harten Acker und begann sich umzusehen. Und dann sah er seinen Bruder. Dieser lag regungslos in einer tiefen Blutlache. Hervid kroch – seine Schmerzen ignorierend – an Andrì heran. Doch das einzige was Hervid noch feststellen konnte, war, dass sein Bruder nicht mehr atmete. Voller Schmerz blickte er gehetzt um sich. Trotz der Dunkelheit konnte er keine der Wachen erkennen. Er fragte, sich ob er es versuchen solle, denn er habe ja nichts mehr zu verlieren. Außerdem schien es das Zeichen der Götter gewesen zu sein, auf das er so viele Jahre gewartet hatte. Er wusste dass es sein letzter Versuch auf Freiheit sein würde. Entweder er würde entkommen oder er würde sterben. Hervid schickte ein Stoßgebet an Eydis, blickte sich noch einmal um und rannte in die Dunkelheit …
Von einigen anderen Sklaven hatte er gehört, dass sich westlich dieses Gefängnisses, eine größere Ortschaft befinden soll. Sie lag am Meer. Das war die einzige Hoffnung, die er noch hatte. Dieser Ort musste einfach einen Hafen haben. Er rannte und rannte. Zwar hörte er zunächst noch das Bellen von Hunden und das Brüllen von Männern, doch diese Laute verstummten bald. Nach einigen Tagen voller Angst, erreichte er die Ortschaft. Er wusste zwar nicht wo er war, doch er hatte ein Ziel: den Hafen.
Hinter einigen Kisten, die noch nicht verladen waren, versteckte er sich und beobachtete das Treiben. Es waren drei Schiffe vor Anker und eines davon wurde gerade beladen. Er ergriff eine der Kisten und trat unsicher auf das Schiff zu. Zu seinem Erstaunen gelangte er sehr einfach an Bord, waren doch die Rudersklaven genauso ärmlich gekleidet wie er selbst. Er brachte die Kiste unter Deck. In diesem Moment war außer ihm keine andere Menschenseele zu sehen. Hervid nutzte die Möglichkeit, ergriff einige Lumpen, die hier ebenso gelagert wurden, sprang hinter einem hohen Berg Ladung und warf die Lumpen über sich.
Wenig später spürte er wie das Schiff in See stach. Er bat Eydis darum ihm einen günstigen Wind zu schicken und Thjarek für eine ruhige See zu sorgen, sodass er schnell von diesem elenden Ort fliehen konnte. So begab sich Hervid erneut in eine ungewisse Zukunft ohne zu wissen, dass ihn die Götter auf eine Insel namens Siebenwind führen würden. |
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